Dr. Jürn Sanders: Wir brauchen den Turn-Around bis 2030

Dr. Jürn Sanders: Wir brauchen den Turn-Around bis 2030

Welches System der Agrarförderungen brauchen wir, um die notwendigen Transformationsprozesse in der Landwirtschaft voranzubringen? Haben wir dafür das richtige Modell und wieviel Zeit bleibt uns noch für die Wende? Die Oekolandbau.de-Redaktion sprach dazu mit Dr. Jürn Sanders, dem Präsidenten des FiBL Europe.

Oekolandbau.de: Wie viel Zeit haben wir – angesichts der planetaren Grenzen – noch für die Wende in unserem Agrar- und Ernährungssystem?

Dr. Sanders: Viel Zeit bleibt uns nicht. Vielleicht sind es noch zehn, vielleicht noch 15 Jahre. Die Gefahr sehe ich darin, dass wir irgendwann auf ökologische Kipppunkte zusteuern, sich dann der Klimawandel oder der Verlust der biologischen Vielfalt um ein Vielfaches beschleunigt und die Kosten exponentiell ansteigen. Nein, wir können dieses Thema nicht länger vor uns herschieben. Der Turn-Around sollte bis 2030 eingeleitet werden.

Oekolandbau.de: Müssen wir, um diese Wende zu vollziehen, auch das System der Agrarförderung neu aufstellen?

Dr. Sanders: Ja, auf jeden Fall. Der Markt allein wird das nicht richten. Denn die Marktmechanismen sind nicht dafür konzipiert, gemeinwohlorientierte Leistungen der Landwirtschaft zu generieren. Dafür braucht es eine zielgenauere Politik, die den Rahmen für wirtschaftliches Handeln setzt. Und die sehen wir noch nicht im ausreichenden Maße. Im Übrigen ist die Landwirtschaft ja heute schon stark von der Politik beeinflusst. Jetzt müssen wir die Weichen neu stellen und dafür sorgen, dass Fördermittel leistungsgerechter verteilt werden.

Oekolandbau.de: Gibt es für die leistungsdifferenzierte Honorierung schon ein praxistaugliches Modell?

Dr. Sanders: Grundsätzlich ist es eine sehr anspruchsvolle Aufgabe, die Umweltleistungen der Landwirtschaft sachgerecht zu erfassen. Wir stehen dabei vor der Herausforderung, dass wir einerseits die Leistung zielgenau und rechtssicher bewerten müssen. Andererseits darf die Erfassung der Indikatoren nicht mit zu hohen Transaktionskosten verbunden sein. Nur ein Beispiel: Nmin-Untersuchungen wären einerseits wünschenswert für die Bestimmung des Auswaschungspotenzials pflanzenverfügbarer Stickstoffmengen im Boden. Andererseits ist das für die Betriebe mit sehr hohen Kosten verbunden. Für einen 60 Hektar Betrieb kann dies Kosten in Höhe von bis zu 3.000 Euro verursachen. Wenn wir die Umweltleistungen ganz genau messen und bewerten wollen, kann das also sehr teuer werden.

Da müssen wir eine balancierte Lösung finden, die in der Praxis funktioniert und teilweise allgemeinere Indikatoren zum Maßstab nehmen. Durch die Digitalisierung erwarte ich da in den nächsten Jahren deutlich mehr Möglichkeiten als heute. Aber darauf zu warten, wäre der falsche Ansatz, denn das bisherige System der flächengebundenen Direktzahlungen hilft uns nicht aus der Krise. Wenn es politisch gewünscht wird, dass wir so ein neues, leistungsdifferenziertes Konzept einführen, dann können wir das in überschaubarer Zeit erarbeiten. Viele Ansätze dafür liegen ja bereits auf dem Tisch.

Oekolandbau.de: Und welches System wäre aus Ihrer Sicht dafür am besten geeignet?

Dr. Sanders: Ein System welches für die Landwirtschaft und die Agrarverwaltung einfach umzusetzen ist, relativ niedrige Kosten verursacht und sich durch eine hohe Wirksamkeit im Hinblick auf die Problemlösung auszeichnet. Zudem sollte es die Zusatzwirkung von mehrjährigen gegenüber einjährigen Maßnahmen und mögliche Kopplungseffekte zwischen verschiedenen Maßnahmen berücksichtigen.

Oekolandbau.de: Und was wäre die richtige Bezugsgröße für die Bewertung der Umweltleistungen: die Fläche oder der Ertrag? Die Diskussion dazu scheint verfahren zu sein…

Dr. Sanders: Ja, in der Tat ist das ein „locked-in Diskurs“. Immer wieder gibt es neue Studie dazu, die mal der einen mal der anderen Seite Argumente liefert. Je nach dem Verständnis von Nachhaltigkeit können Zahlen unterschiedlich interpretiert werden. Es geht am Ende darum, innerhalb der planetaren Grenzen Erträge zu produzieren, die unseren Bedürfnissen gerecht werden. Es geht also nicht nur um Effizienz, sondern auch um Suffizienz. Welche Erträge brauchen wir wirklich und für was? (Jürn Sanders nimmt eine Brezel, die auf dem Tisch liegt, und bricht sie in drei Teile.)

Einen Teil unserer produzierten Lebensmittel werfen wir ungenutzt weg, einen Teil verfüttern wir an Tiere und nur einen Teil essen wir Menschen. Das sollte uns zu denken geben. Wir müssen uns also nicht nur fragen, welchen Mengen wir produzieren, sondern auch wofür.

Oekolandbau.de: Wie könnte Ihrer Meinung nach ein "Fahrplan" für die Neuausrichtung der GAP aussehen?

Dr. Sanders: Die Debatte dazu wird ja schon geführt, aber wir müssen diesen Diskurs jetzt intensivieren und zeitnah zu Lösungen kommen. Wenn wir für die Neugestaltung der GAP ab 2028 ein neues System wollen, müssen wir rechtzeitig vorher die Eckpunkte für den Kurswechsel festlegen. Und das heißt: Möglichst vor der Bundestagswahl 2025.

Oekolandbau.de: Welche Effekte wären zu erwarten, wenn öffentliche Gelder (mehr) nach den Leistungen für öffentliche Güter verteilt würden? Bei so einem Systemwechsel wird es doch zwangsläufig auch Verlierer geben…

Dr. Sanders: Das System der allgemeinen Direktzahlungen muss reformiert werden. Wir können angesichts begrenzter Mittel und notwendiger Transformationsprozesse nicht allein dafür Geld ausgeben, dass es die Betriebe gibt. Das müssen wir ehrlich so kommunizieren. Aber der Systemwechsel muss so gestaltet werden, dass er auch konventionellen Betrieben Chancen ermöglicht, die sich für Umweltleistungen engagieren.


Letzte Aktualisierung 31.10.2023

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